Was Fake News mit Sokrates zu tun haben

Matthias Zuber besuchte sein ehemaliges Gymnasium in Hof
Matthias Zuber besuchte sein ehemaliges Gymnasium in Hof

Ein paar subjektive Beobachtungen von Matthias Zuber (31. LR.) zu seinem Besuch im Rahmen der Aktion #journalistenschule am Jean-Paul-Gymnasium in Hof.

Das letzte Mal war ich hier, als ich mein Abiturzeugnis abgeholt habe. Das war vor 32 Jahren und fast schmerzhaft prosaisch. Und jetzt – ich erkenne meine alte Schule wieder. Immerhin. Ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht. Jetzt bin ich hier, um etwas über Pressefreiheit zu erzählen und mit den Schüler*innen der 10. Jahrgangsstufe darüber zu diskutieren. Jean Paul blickt neugierig von seiner Litfaßsäule im Schulhof.

Wie ich so vor meiner alten Schule stehe, blitzen Erinnerungen auf. Unangenehme – zum Beispiel an meinen Physik-Lehrer, an die – wie ich es als Pubertierender empfand. Geistige Enge. Und angenehmee Erinnerungen: An verrückte Videodrehs, in deren Folge ein Auto explodierte. Einsätze von Feuerwehr und Polizei wegen unserer „Kunstaktionen“, wie wir sie nannten. Es gab hier auch Englisch-, Deutsch-, Griechisch-, Kunst- Lehrerinnen und Lehrer, die tatsächlich Lebensweg prägend waren für mich.

In der Aula wirft der Beamer das erste Bild meiner Präsentation an die Leinwand. Die Stühle davor sind noch leer. Es ist 11 Uhr 17. Noch 13 Minuten.

Da steht in Arktisblau, der Trabbi-Farbe: „JOURNFAKEISM?“. „Journfakeism“? Mal echt? – Das ist schon ein wenig platt, denke ich. Gestern sah das noch besser aus und hatte sich auch noch viel besser gelesen. Jetzt ist mir „Journfakeism“ peinlich und ich überlege, die erste Folie noch schnell zu ändern. David Sendelbach, der Deutsch, Geschichte und Sozialkunde unterrichtet, unterbricht den Stream of Consciousness mit einem freundlichen Lächeln und einem Handschlag. Er ist viel jünger als ich, trägt eine Brille und hat eine weiche, freundliche Art. Er hat sich bereit erklärt, zwei seiner raren Sozialkundestunden in der 10. Jahrgangsstufe für unsere Aktion zum Tag der Pressefreiheit zu opfern. Immerhin. Er hatte am Telefon gesagt, dass Fake News ein Thema ist für die Jugendlichen. Warum habe ich mich nur für diese blöde Überschrift entschieden.

David Sendelbach stellt mich kurz vor: Schüler am Jean-Paul-Gymnasium, Philosophiestudium, Deutsche Journalistenschule, freier Autor für Print, Radio und Fernsehen, Produzent, Kameramann, Cutter, eigene, kleine Produktionsfirma in Berlin, Dozent… Der erste Schlag geht gleich mitten ins Getriebe: „Wie frei ist der Autor?“ Ich überlege kurz, welcher Freiheitsbegriff wohl gemeint ist, entscheide mich dann aber gegen eine Proseminarstunde Philosophie und erzähle praktisch aus meiner Arbeitswelt: „Mir läuft eine Geschichte über den Weg“, sage ich, „die mich fasziniert im Positiven wie Negativen und von der ich glaube, dass sie auch andere Menschen interessieren kann. Ich schreibe ein Exposé und biete es verschiedenen Redaktionen an.“ Das ist der Moment der Unfreiheit. Ich bin darauf angewiesen, dass eine Redakteurin, ein Redakteur, die Geschichte haben will. Es kann sein, dass ich als Autor in diesem Stadium Kompromisse machen, die ursprüngliche Geschichte an die Zielsetzungen der Redaktion anpassen muss. Wobei – ich muss gar nicht – ich kann sie auch einer anderen Redaktion anbieten. Im Endeffekt ist das meine Entscheidung. Und: wenn sie keiner kauft, die Geschichte? Na dann muss ich vielleicht doch Kompromisse machen, wenn die Miete noch nicht bezahlt ist in dem Monat – ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass das schon mal so war.

Wenn die Geschichte verkauft ist, bin ich wieder vollkommen frei bis zur Abnahme durch die Redaktion. Ich zeige das Video dem Redakteur, der Redakteurin und gehe auf die nachvollziehbaren und sinnvollen Änderungswünsche ein, auf die nicht nachvollziehbaren nicht. Berufe mich auf mein Recht als Autor. Im schlimmsten Fall ändert die Redaktion das dann doch gegen meinen Willen. Dafür darf dann mein Name nicht im Abspann erscheinen, weil ich mit dem Produkt nicht in Verbindung gebracht werden will. Das ist aber noch nie passiert. Ich fühle mich in meiner Arbeit als Autor also ziemlich frei. Ob das überzeugt hat? Ist das Skepsis im Blick der jungen Frau?

Ich erzähle mehr von meiner Arbeit, von den Geschichten, die ich schon produziert habe, gehe auf Fragen dazu ein und beginne danach mit der Präsentation: Prinz Williams Stinkfinger. Ein Foto, das so aussieht als würde der englische Prinz der Masse den ausgestreckten Mittelfinger entgegenstrecken. Das Bild hatte damals einen Shitstorm in sozialen Netzwerken ausgelöst. Ein Foto, das zum selben Zeitpunkt aus einer anderen Perspektive aufgenommen wurde, zeigt, dass der Prinz in Wirklichkeit drei Finger dem Publikum zeigt. Wir sprechen über Perspektiven und was wohl guten Journalismus von Informationen aus sozialen Netzwerken unterscheidet. Die Schüler*innen bekommen in kurzer Zeit selbständig die wichtigsten journalistischen Kriterien zusammen: immer bis zur eigentlichen Quelle recherchieren, immer auch die andere Seite berücksichtigen und zu Wort kommen lassen, keine Fakten für die Geschichte anpassen oder falsch wiedergeben, andere, vertrauenswürdige Personen gegenlesen, gegensehen, gegenhören lassen.

Das BR-Video über „Lügen im Internet …“ soll weiter ins Thema „Fakes“ führen. „Sind Fakes eine Erscheinung unserer Tage? Erst mit Erfindung des Internets entstanden?“, frage ich nach dem Video. Eine Schülerin meldet sich und sagt, dass es ja schon im antiken Griechenland eine Philosophenrichtung gab, der es mehr darum ging, mit rhetorischen Mitteln Versammlungen zu beeinflussen und es mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Klar – die Sophisten – da hätte ich auch drauf kommen können – was für eine kongeniale Idee. Die junge Frau ist der schlagende Beweis für den Sinn, die Inspiration und die Aktualität von Altgriechisch an Gymnasien.

Wir sprechen über die Genialität des platonische Sokrates, der im Clinch mit den Sophisten lag. In einem dieser Dialoge sprengt er sogar die Grenzen seiner Sprache, indem er bemerkt, dass das Wort „πειθω“ zwei verschiedene Handlungen bezeichnet („ich überrede“ und „ich überzeuge“). Wir diskutieren in die Richtung, dass guter Journalismus auf keinen Fall „überredet“, sondern wenn dann „überzeugt“, immer aber die Fakten mit einem hohen Maß an Aufrichtigkeit und Umsichtigkeit wiedergibt. Eben wie der platonische Sokrates der Wahrheit verpflichtet ist. Und wenn es nicht die eine Wahrheit gibt, bildet der gute Journalismus dann eben mehrere ab im Vergleich.

Wir sprechen darüber, warum gerade guter Journalismus für eine Demokratie wichtig ist. Klar. Wie soll jemand in seinem Interesse wählen, wenn die Wahrnehmung seiner Welt auf Fakes beruht… Es macht Spass mit den jungen Mitbürger*innen zu diskutieren. Sie sind freundlich, sie sind wach, sie sind alles andere als „geistig eng“. Ich habe eine subjektive Liste mit journalistischen Fakes zusammengestellt, beginnend mit Benjamin Harris, der in seiner Zeitung «Publick Occurrences Both Forreign and Domestick» in Boston am 25.09.1689 gemeine Fake News über Ludwig XIV verbreitete, über Tito, der Figur aus Pitigrillis Roman „Kokain“ von 1922, Janet Cooke, Konrad Kujau bis zu – natürlich – Claas Relotius. Wir besprechen, warum die meisten Fake-News-Produzenten oft über Jahre erfolgreiche ihre Geschichten verkaufen konnten. Weil die meisten von ihnen irgendwann einmal große, wichtige und wahre Geschichten publiziert haben und das Vertrauen ihrer Auftraggeber besaßen. Zum anderen weil sie oft in ihren Geschichten die Vorurteile ihrer Leser bedienen. Sie beschreiben die Welt, wie sie sich der Mainstream vorstellt, statt das bestehende Bild von Dingen, Personen, Gegenden zu konterkarieren.

In einem kurzen Film erklären Albrecht Ude, Michael Hoerz und Marcus Lindemann, mit welchen Werkzeugen und Arbeitsweisen man Fakes oder sogenannte Hoax im Internet entlarven kann. Der Film stammt von der Berliner Journalistenschule (BJS), die vor fast drei Jahren die BJS Aktion „Ein Zelt voller Geschichten“ dokumentieren ließ.

Und plötzlich ist es fünf nach eins und in der Präsentation schlummern noch neun Folien. Die jungen Erwachsenen warten geduldig auf das Schlusswort. Ich verspreche immerhin die Präsentation zu schicken, David Sendelbach überreicht mir einen Jean-Paul-Gymnasiums-Schal, einen Jean-Paul-Gymnasiums-Stift und einen Jean-Paul-Gymnasiums-Schreibblock. Sowas gab es zu meiner Zeit auch nicht. Ein bisschen neidisch bin ich in diesem Moment, denke dann an das expoldierende Auto und bin wieder mit meiner Vergangenheit versöhnt. War gut die Zeit hier an der Schule ganz damals und jetzt auch. Jetzt sogar so gut, dass ich mir überlege wiederzukommen. David Sendelbach fand die 95 Minuten anscheinend auch gut, weil er fragt, ob ich so etwas noch einmal auch ohne „Tag der Pressefreiheit“ in anderen Jahrgangsstufen machen könnte. Vielleicht wird ja so aus dem „Immerhin“, ein „Immerwiederhin“ …